Zum Evangelium des 5. Sonntags der Fastenzeit: Johannesevangelium Kapitel 11 Verse 1-45
Die Totenerweckung des Lazarus
Liebe Gemeinde!
Viele von Ihnen werden in den letzten Tagen Berichte über die Corona-Krise aus Norditalien gelesen oder gesehen haben. Ein Interview mit einem Krankenhausseelsorger aus der italienischen Stadt Bergamo ist auch mir besonders in Erinnerung geblieben. Bergamo gehört zu den Orten der Welt, die in diesen Tagen zu einem Symbol geworden sind für die besonders dramatische und schreckliche Seite der Corona-Pandemie. Im Krankenhaus dort kämpfen die Schwerkranken um ihr Leben. Ärzte und Pflegekräfte arbeiten bis zur Erschöpfung, um die enorme Anzahl an Patienten behandeln zu können. Und viele von ihnen stecken sich leider auch selbst mit dem Virus an. Es gibt also viele unvorstellbare Dramen, von denen auch der Krankenhausseelsorger, ein 84-jähriger Kapuzinerpater, in dem Interview berichtet.
Besonders schlimm aber ist für ihn die Erfahrung, dass die sterbenden Patientinnen und Patienten, die sich mit dem Virus infiziert haben, getrennt von ihren Angehörigen und Freunden vom Leben Abschied nehmen müssen. Nur über technische Hilfsmittel wie das Smartphone können sie ihren Liebsten noch „Auf Wiedersehen!“ sagen. Um das Virus nicht noch weiter zu verbreiten, dürfen sie nicht mehr besucht werden. Und es ist niemand da, der beim Sterben ihre Hand hält. Nur kurz kann auch der Krankenhausseelsorger ihnen ein paar Worte des Trostes sagen, ohne sie zu berühren. Zum Abschiednehmen von den sterbenden Angehörigen erhalten die Familien keine echte Möglichkeit.
Selbst bei den Beerdigungen der unzähligen Toten, die in Norditalien dem Virus zum Opfer gefallen sind, sind zumeist keine anderen Menschen zugegen. Die Fernsehbilder von den Militärfahrzeugen, die die vielen Särge mit den Corona-Toten abtransportieren, weil selbst auf den Friedhöfen in der Heimat keine Bestattung mehr möglich ist, wirken gespenstisch und erschütternd.
Wenngleich die Situation bei uns nicht so dramatisch ist wie in Norditalien, so führt doch die Epidemie auch in Deutschland mittlerweile dazu, dass das Abschiednehmen von geliebten Verstorbenen nur unter äußerst erschwerten Umständen noch möglich ist. Jeder kann leicht nachvollziehen, dass es für die Angehörigen eine schmerzvolle Erfahrung bedeutet, wenn eine Trauerfeier nur noch auf dem Friedhof am offenen Grab mit einer auf den engsten Kreis der Familie oder Freunde beschränkten Zahl von Menschen stattfinden kann und die Trauergesellschaft nach derzeit gültigen Vorgaben höchstens 20 Personen umfassen darf. So wünschen sich die meisten einen Abschied von den Verstorbenen nicht, auch wenn sich alle darum bemühen, dass die Toten dennoch würdevoll zur letzten Ruhe gebracht werden.
Nicht nur in dem Drama der Corona-Epidemie, sondern auch in den normalen Zeiten ist es dabei für Angehörige und Freunde oft ein großer Schmerz, wenn sie in den letzten Stunden des Lebens nicht mehr von einem Sterbenden, der ihnen nahe steht, Abschied nehmen können. Oft wird dieses Thema auch bei Trauergesprächen angesprochen. Die Verwandten machen sich viele Sorgen und Gedanken, wenn der geliebte Mensch genau zu der Zeit gestorben ist, in der niemand bei ihm war. Und das gilt selbst dann noch, wenn die Angehörigen nur wenige Stunden zuvor noch bei dem Sterbenden gewesen sind, aber nicht mit einem so baldigen Eintritt des Todes gerechnet haben. Dass manchmal die Sterbenden sich vor ihren Angehörigen zusammenreißen, um sie nicht zu betrüben, und erst dann loslassen und sterben können, wenn sie für sich allein sind, ist eine Erfahrung, von der immer wieder berichtet wird. Und das kann hoffentlich auch ein Trost für die Trauernden sein, denen es bei ihren Angehörigen so ergangen ist.
Etwas von diesem zutiefst menschlichen Schmerz begegnet uns heute auch im Evangelium des 5. Sonntags der Fastenzeit, in dem die Geschichte des Lazarus erzählt wird.
Der Evangelist Johannes erwähnt, dass Jesus außerhalb des Apostelkreises, der in seiner Nachfolge zu seinen ständigen Begleitern zählte, auch einen erweiterten Kreis von Anhängern und von Freunden besaß, die nicht mit ihm umherzogen, sondern sesshaft waren, und die er aufsuchen konnte, wenn er sich in der Nähe befand. Zu diesen Freunden, mit denen sich Jesus eng verbunden fühlte, gehörten auch die Geschwister Marta, Maria und Lazarus, die in dem Ort Betanien, unweit von Jerusalem, zu Hause waren.
Das Evangelium erzählt nun heute von jenem dramatischen Ereignis, das alle innerlich erschüttert: Lazarus wird krank und er stirbt. Sein Freund Jesus aber ist nicht da, als für Lazarus die letzte Stunde gekommen ist. Ja, selbst zur Beerdigung seines Freundes kommt Jesus nicht mehr früh genug. Als er mit seinen Aposteln in Betanien eintrifft, liegt Lazarus bereits seit drei Tagen tot im Grab. Die Verwesung hat bereits eingesetzt, wie das Evangelium mit dem Verweis auf den üblen Leichengeruch ausdrücklich festhält. Und somit ist klar, dass nach menschlichem Ermessen der Tod endgültig und unumkehrbar eingetreten ist. Hier scheint alle Hoffnung umsonst, dass es noch zu einer Wende kommen könnte.
Marta aber ist voller Trauer. Und man kann sich den Klang ihrer Stimme wohl vorstellen, als sie zu Jesus sagt, dass ihr Bruder Lazarus nicht gestorben wäre, wenn er rechtzeitig bei ihm gewesen wäre. Verzweifelt und vielleicht auch vorwurfsvoll mag diese Aussage geklungen haben. Aber auch Jesus ist davon erschüttert, dass sein Freund tot ist. Zum Abschiednehmen scheint er nun zu spät gekommen zu sein. Weinend steht er an seinem Grab.
Und was jetzt? Wie soll es jetzt weitergehen?
Normalerweise erleben wir alle, dass sich in dieser Situation nichts mehr ändern lässt. Tot ist tot. Das Leben geht zwar irgendwann irgendwie weiter, aber am Schicksal des Verlustes eines geliebten Menschen ändert das nichts mehr. Die Trauernden müssen mit dem Verlust fertig werden. Sie müssen sich damit abfinden, dass ein Leben unwiderruflich zu Ende gegangen ist. Und das bedeutet auch, dass ein möglicherweise verpasster Abschied nicht mehr nachgeholt werden kann. Dafür ist es nun zu spät. So geht es in unserer alltäglichen Welt weiter, wenn ein Mensch gestorben ist.
Im Evangelium aber geht es ganz anders weiter. Und das ist überraschend und überwältigend für alle Zeugen. Es ist beinahe unglaublich für alle, die erst später davon hören, was da in Betanien geschehen sein soll. Der Volksweisheit, dass noch niemand von den Toten zurückgekehrt sei, widerspricht das Evangelium klar und deutlich. Gerade weil es sich um eine bestimmt nicht alltägliche Erfahrung handelt, tun sich die Menschen schwer damit, den Worten des Evangeliums zu glauben. Da müssen Menschen schon ganz außergewöhnliche Erfahrungen gemacht haben, damit es ihnen in den Sinn hinein will, dass es so etwas wie Totenerweckungen tatsächlich geben soll. Vielleicht müssen sie zu denen gehören, die dem Tod selbst schon ganz nahe gekommen sind und in letzter Sekunde doch noch ins Leben zurückkehren konnten. Wider jede Wahrscheinlichkeit, wider jede Erwartung. Oder sie müssen vielleicht selbst Zeugen eines ähnlichen Vorgangs einer nicht zu erwartenden Wiederbelebung geworden sein, wie sie in den Akten der Heiligsprechungsverfahren der Kirche manchmal zitiert werden.
Dass es im Evangelium so ganz anders weitergeht als zu erwarten, hat einen konkreten Grund. Und dieser Grund heißt Jesus Christus. Selbst jetzt noch, wo nun wirklich alles zu spät zu sein scheint, eröffnet sich durch Jesus Christus eine ganz neue Zukunft: für die Lebenden genauso wie für den Verstorbenen: Mit Jesus Christus ist es nie zu spät für einen mehr als überraschenden Neuanfang!
Nur mit ihm kann es einen Neuanfang geben; denn Jesus Christus allein ist die Auferstehung und das Leben. Und wer das glaubt, so wie es Marta im Gespräch mit dem Herrn schließlich bekennt, der darf erfahren, dass auch in seinem Geschick der Tod nicht mehr das letzte Wort hat.
Ja, das Evangelium zeigt uns: Für einen Abschied mag es manchmal zu spät sein. Denn normalerweise kehren die Verstorbenen nach dem Tod nicht mehr in diese Welt zurück, so wie Lazarus, der also noch einige Zeit zu seinem Leben hinzu gewonnen hat. Aber selbst da, wo es für dieses Abschiednehmen zu spät war, da bleibt dennoch die Hoffnung auf einen Neuanfang durch Jesus Christus, der auch für unsere Toten die Auferstehung und das Leben ist. Weil nämlich Jesus Christus der Herr ist auch über den Tod, was in der Totenerweckung des Lazarus deutlich wird, darum hat er auch das letzte Wort, das endgültig über das Schicksal der Menschen entscheidet. Und dieses Wort wird ein Wort des Lebens sein.
Darum aber dürfen wir vertrauensvoll hoffen, dass es auch für uns und für unsere Lieben nie zu spät ist: nicht für den Abschied, sondern für den Neuanfang, den Gott uns in seiner Barmherzigkeit schenken will. Dass diesem Neuanfang kein weiterer Abschied mehr folgen wird, das hat sich durch die Auferstehung Jesu Christi gezeigt. So schenkt uns Ostern die entscheidende Hoffnung, die uns nicht zugrunde gehen lässt, wie es der Apostel Paulus formuliert hat. Amen.
Geistlicher Impuls von Pastor Frank Weilke